Die Spitzenkandidatin

Dagmar Ziegler im Gespräch mit Torsten Jacob, Amtsdirektor von Bad Wilsnack/Weisen - Fotos: Jens Wegner

Sie kennt Politik vor der Haustür und im Hohen Haus. Vor knapp 25 Jahren begann Dagmar Ziegler ihre politische Karriere im kleinen Ort Lenzen. Seit Mai ist die ehemalige Brandenburger Finanz- und Sozialministerin Spitzenkandidatin der Brandenburger SPD für die Bundestagswahl. Wir trafen die 56-Jährige in ihrem Wahlkreis, der übrigens flächenmäßig der zweitgrößte Deutschlands ist.

Ihre politische Karriere begann 1993 als Bürgermeisterin von Lenzen. Welche Fähigkeiten haben Sie in diesen fünf Jahren Kommunalpolitik erworben, die Ihnen heute noch nützlich sind?

Das war eine sehr spannende Zeit. Kurz nach der deutschen Einheit erlebte ich die Umbrüche in dem Städtchen nicht nur mit, sondern gestaltete sie aktiv mit. Da kam viel zusammen: die Schließung von Einrichtungen, der Neubau eines Alten- und Pflegeheimes mit Kita im gleichen Haus, unzählige Förderanträge für Straßenbau und Stadtsanierung haben viele Sitzungen bis spät in die Nacht beschert. Es war kräftezehrend und lehrreich, denn dabei merkte ich schnell, dass Veränderungen viel Arbeit bedeuten.

Auf kommunaler Ebene funktioniert die parteiübergreifende Zusammenarbeit in sehr vielen Fällen gut. Warum wird das immer schwieriger, je höher die politischen Ebenen liegen?

Ja, in den Gemeinden ist ein Parteibuch oft Nebensache. Damals war in vielen Fällen pragmatisches Handeln gefragt. Und da waren wir uns immer schnell einig, oft gegen die Positionen der Verwaltung. Vor allem mit der damaligen CDU ging es sehr entspannt und konstruktiv voran, sogar mit der FDP. Schon im Kreistag, in dem ich seit Jahren arbeite, ändert sich das. Da wird öfter mal mit den Flügen geschlagen. Aber im Großen und Ganzen geht es auch da um die Sache.

Als Spitzenkandidatin der SPD für die Bundestagswahl stehen Sie nicht nur für die Prignitz, sondern für das ganze Land. Was ändert sich praktisch, wenn man Spitzenkandidatin ist?

Es gibt mehr öffentliche Termine. Der direkte Schlagabtausch mit den anderen Spitzenkandidaten steht wohl bevor. Auf Landesebene geht es eher um grundsätzliche Dinge wie Gerechtigkeitsfragen, Vermeidung von Altersarmut, Steuerpolitik, Förderung von Familien, Infrastrukturausbau, Fachkräftemangel.

Apropos Fachkräftemangel. In der Prignitz haben sich in den letzten Jahren leistungsstarke Unternehmen etabliert. Und die Zeichen stehen auf Wachstum. Werden die Unternehmen auch zukünftig noch die Fachkräfte in der Region finden, die sie benötigen?

Als Arbeitsministerin hatte ich schon 2005 einen Landesarbeitskreis zur Fachkräftesicherung mit Arbeitgebern, Gewerkschaften und Kammern gegründet. Auf Grundlage einer Studie zur Demografie und den Auswirkungen war klar, was kommt. Damals fühlte ich mich oft wie eine einsame Ruferin in der Wüste, weil viele Unternehmen keinen Handlungsbedarf sahen. Das hat sich sehr geändert. Jetzt wird in Schulen frühzeitig geworben. Es gibt ein Rückkehrer-Programm für junge Menschen, die wieder in unsere schöne Heimat wollen, Ausbildungsmessen und jede Menge attraktive Angebote seitens der Unternehmen wie Zuschüsse zur Ausbildung, Bereitstellung von Autos für mehr Mobilität, Büchergeld, Unterstützung von dualen Studiengängen.

Wie schätzen Sie das politische Interesse der Jugendlichen in Ihrem Wahlkreis ein? Wo holen Sie gerade die ganz jungen Wähler ab?

Das ist wirklich größer, als man oft denkt – sowohl bei den Jusos als auch ganz allgemein. Nur das Umsetzen in aktives Handeln muss mehr gefördert werden. Da sind wir Alten gefragt, sowohl in den Parteien als auch in den Kommunen, denn wir müssen die notwendigen Impulse geben.

Seit vielen Jahren engagieren Sie sich für den Ausbau der Elbe zwischen Hamburg und der Prignitz. Wie ist der gegenwärtige Stand?

Wir leben in einer über Jahrhunderte gewachsenen Kulturlandschaft. Das heißt, Flüsse, Seen, Wälder und Böden wurden durch die Menschen genutzt und verändert. Das kann man nicht einfach zurückdrehen. Dort, wo Menschen leben, müssen sie auch ihre Existenzgrundlagen finden. Deshalb war für mich die Wiederherstellung der Schiffbarkeit der Elbe ein großes Anliegen. Das Verkehrsaufkommen wächst, die Straßen sind hoch belastet, der Schienenverkehr an der Kapazitätsgrenze. Deshalb müssen wir alle Möglichkeiten nutzen, auch die der Binnenschifffahrt. Es ist den Wirtschafts- und Umweltverbänden unter parlamentarischer Begleitung und vor allem unter der Federführung der entsprechenden Bundesministerien gelungen, ein Gesamtkonzept zur Zukunft der Elbe zu erarbeiten. Nach vielen Jahren des Stillstands ein großer Erfolg. Sowohl Umweltbelange als auch verkehrliche und touristische Anforderungen sind berücksichtigt. Die Koalition hat im Parlament durch einen Entschließungsantrag unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass die Zeiten des Gegeneinanders der verschiedenen Interessen jetzt ein Ende haben und die Regierung mit der unverzüglichen Umsetzung der vereinbarten Ziele zu beginnen hat.

Der weitere Ausbau der Infrastruktur ist für die Wirtschaft der Prignitz existenziell. Wo liegen hier die aktuellen Schwerpunkte?

Eine Region braucht Entwicklungschancen. Nur durch eine gute verkehrliche Anbindung ist das möglich. Die Autobahn A14, nun schon seit Jahrzehnten eines meiner Kampfziele, muss endlich fertiggestellt werden. Aber auch öffentlicher Nahverkehr, Schulen, medizinische Versorgung und Freizeitangebote lassen Menschen darüber entscheiden, ob sie ihre Heimat als lebenswert empfinden und Zuzüge eine reale Option sind.

Dazu gehört ganz sicher auch das schnelle Internet. Brandenburgs ländliche Regionen leiden unter Tempo 30 auf der märkischen Datenautobahn. Wie sieht es da konkret in der Prignitz aus?

Oh ja. Aus meiner Sicht gehört schnelles Internet ohnehin längst zur Daseinsvorsorge wie Trinkwasser. Bei uns gibt es nicht nur Unternehmen mit sichtbaren Werkhallen, Landwirte und Handwerker, sondern eine Vielzahl an Architekten, Start-ups, Künstlern und Zweitwohnsitzlern. Da erkennt man nicht am Klingelschild, wer welchen Bedarf hat. Die Bereitstellung von Trinkwasser wird ja auch nicht danach bemessen, ob jemand viel oder wenig aus der Leitung entnimmt, es gehört zur Selbstverständlichkeit. Also muss es eine absolute Selbstverständlichkeit bis in den letzten Zipfel unserer schönen Heimat sein, Daten schnell und sicher zu transportieren.

Welche digitalen Kommunikationswege nutzen Sie im Wahlkampf für die Propagierung Ihrer Inhalte?

Natürlich muss auch ich mich an den Erfordernissen der Zeit ausrichten und nutze selbstverständlich Instagram, Twitter und Facebook. Übrigens, in den meisten Fällen übernehme ich das selbst.

Sie sind viel in der Prignitz unterwegs. Welche Sorgen und Probleme der Menschen hören Sie gegenwärtig besonders häufig?

Nun ja, eher keine bundespolitischen. Da haben wir Sozialdemokraten ja viele Erfolge zu verzeichnen. Gerade der Mindestlohn hat eine positive Wirkung entfaltet. Und die Rente mit 63 wird von sehr vielen Menschen in Anspruch genommen. Ärger gibt es durch die geplante Kreisgebietsreform. Dabei sind die meisten für eine zukunftsfähige Verwaltung. Was aber Sorgen bereitet, ist der befürchtete Wegzug von Verwaltungsangestellten in eine neue Kreisstadt. Das würde Kaufkraftverlust bedeuten, weniger Kinder in Kitas und Schulen, geringere Inanspruchnahme von Handwerker- und Dienstleistungen, weiterer Verfall der Grundstückspreise. Deshalb kämpfe ich für den gesetzlich gesicherten Beibehalt der Verwaltungsstandorte, egal, wo letztlich das Büroschild des Landrats hängt.

Sie hören viele Wünsche an die Politik ganz allgemein, an Sie persönlich ganz konkret. Wünschen Sie sich auch manchmal etwas von den Menschen, mit denen sie sprechen, oder von den Kommunalpolitikern der Region?

Es ist meine tiefe Überzeugung, dass die Beziehung zwischen Bürgern und Politikern keine Einbahnstraße sein darf. Bei allen Gesprächen vor Ort oder mit den vielen Besuchergruppen im Bundestag fordere ich jede und jeden auf, selbst mitzuwirken statt zu meckern. Als es in meinem Städtchen 1990 darum ging, ob ein ehemaliger Stasi-Offizier Bürgermeister bleiben sollte, bin ich als Neuzugezogene erstmals mutig hinter dem Küchenvorhang hervorgetreten und habe erfolgreich dagegen gekämpft. Politik fängt vor der Haustür an.

Auch wenn Sie gegenwärtig sehr wenig Freizeit haben: Welche Ecken der Prignitz lieben Sie besonders?

Ich habe in der letzten Wahlperiode einen kulinarischen Abend im Bundestag organisiert. Viele Gastronomen haben gezeigt, was unsere Heimat an regionalen Leckereien zu bieten hat. Die Abgeordneten aus ganz Deutschland waren begeistert. Die wunderbare Natur, ein tolles Fahrradwegenetz, Kultur- und Sportangebote prägen die hohe Lebensqualität in der Prignitz. Ob die Burg Lenzen, die Elbpromenade in Wittenberge, die Lotte-Lehmann-Woche in Perleberg, die Konzerte in der Wunderblutkirche und die Therme in Bad Wilsnack, das Plattenburgspektakel … es sind viele Highlights, die es hier zu entdecken gibt. Das Gespräch führte Brigitte Menge

Zur Person – Dagmar Ziegler

Manfred Stolpe motivierte Dagmar Ziegler im Jahr 2000 den „knochenharten Job“ der Finanzministerin Brandenburgs zu übernehmen. Die Diplom-Finanzökonomin traf die richtigen Entscheidungen zur Sanierung des Haushalts und erarbeitete sich schnell Anerkennung. Vier Jahre später wurde sie Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Familie. 1990 gründete sie den Ortsverein der SPD in Lenzen, zehn Jahre später wurde sie stellvertretende Vorsitzende des SPD-Landesverbandes. Seit 2008 ist die heute 56-Jährige Mitglied des Kreistages Prignitz. Seit 2009 ist Dagmar Ziegler Mitglied des Deutschen Bundestages; während der 17. Wahlperiode war sie stellvertretende Fraktionsvorsitzende für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bildung, Aufbau Ost; während der 18. Wahlperiode arbeitet sie als Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD -Bundestagsfraktion. Die SPD-Politikerin ist Sprecherin des Seeheimer Kreises, des wirtschaftsorientierten Flügels der SPD-Bundestagsfraktion. Ehrenamtlich engagiert sie sich in vielen Organisationen, darunter im Müttergenesungswerk und der Fürst Donnersmarck-Stiftung. Wie sie das Pensum schafft? „Es macht Spaß und manchmal sogar zufrieden“, bekennt sie.