Gender-Medizin: Ein neues Schlagwort in unserer trendhungrigen Zeit? Oder doch ein zukunftsorientiertes Thema? Was ist dran an geschlechtsspezifischer Gesundheitsversorgung? Ende Dezember 2017 gründete sich – aus dem anna fischer project – in Potsdam die G3-Arbeitsgemeinschaft für moderne Medizin e. V. Der gemeinnützige Verein vernetzt Ärzt/innen, Wissenschaftler/innen und Vertreter/ innen aus Verbänden, Gesundheitswirtschaft, Krankenkassen sowie der Politik.
Impulsgeberin für den jungen Verein ist die Medizinerin Anna Fischer-Dückelmann. Die gebürtige Österreicherin promovierte 1896 und übernahm ein Jahr später eine Praxis als Frauenund Kinderärztin in Dresden. Ihr Buch „Die Frau als Hausärztin – ein ärztliches Nachschlagebuch für die Frau“ aus dem Jahr 1901 wurde zum Bestseller, da es allgemein verständlich und mit vielen Abbildungen umfassenden Rat in allen Fragen des weiblichen Lebens gab. Körper, Geist, Lebensweise, Moral wurden ebenso angesprochen wie die Tabuthemen Homosexualität, Ehebruch, sexuelle Verweigerung. Das Werk erschien bis in die 1970er-Jahre in zahlreichen, immer wieder neu bearbeiteten Auflagen mit 1,4 Millionen Ausgaben. „Das für die damalige Zeit erstaunlich aufgeschlossene Buch einer klugen Frau zeigt ein sehr ausgeprägtes geschlechterspezifisches Herangehen an die vielen verschiedenen gesundheitlichen Themen. Es legte damit einen Grundstein für das, was wir heute als geschlechtergerechte Gesundheitsversorgung zusammenfassen“, weiß die renommierte Brandenburger Medizin-Journalistin Annegret Hofmann, die sich seit vielen Jahren mit diesem vielschichtigen Thema beschäftigt. Sie ist Mit-Initiatorin des anna fischer projects und Vorsitzende von G3 sowie seit dessen Gründung im Jahr 2011 Sprecherin des Netzwerkes „Gendermedizin & Öffentlichkeit“ mit Expert/innenn aus dem deutschsprachigen Raum und darüber hinaus.
Woher kommt das wachsende Interesse bei Medizinern, Therapeuten, Politikern und natürlich Patienten? „Wer sich das Ziel setzt, Chancengleichheit und Gleichstellung von Männern und Frauen zu gewährleisten, fragt sich dann ziemlich schnell, wo Ursachen und Erscheinungsweisen für bestehende Geschlechterungleichheiten in der Gesundheitsversorgung sind“, gibt Annegret Hofmann zu denken. Manches davon ist allgemein bekannt, anderes inspiriert zum Nachdenken. So weiß wohl inzwischen beinahe jede/r, dass sich Männer, anders als Frauen, in Sachen Prävention schwertun. Erinnert sei da an die Kampagne der AOK – Die Gesundheitskasse Nordost „Hose runter!“. Herzinfarkt und Schlaganfall sind hingegen – wie oft noch angenommen – keineswegs typische Männerkrankheiten. Bei Frauen allerdings wird ein Herzinfarkt oft nicht oder erst zu spät erkannt; auch weil sie andere Symptome als die bekannten beschreiben und der Arzt diese Erkrankung deshalb bei ihnen einfach nicht vermutet. Frauen leiden nachweisbar häufiger an Migräne oder Reizdarm. Bei Diabetes lässt sich der Blutzucker bei Frauen schwerer einstellen als bei Männern. Auch Schmerzwahrnehmung und -empfinden sind bei den Geschlechtern unterschiedlich. Osteoporose gilt landläufig als Frauenkrankheit. Aber etwa ein Viertel der Osteoporose-Fälle betrifft Männer. Erst in letzter Zeit setzt sich die Erkenntnis durch, dass Depressionen, die man in der Regel Frauen zuspricht, sehr häufig auch Männer betreffen. Die Erscheinungsweisen unterscheiden sich. Ein weites Feld sind geschlechterspezifische Aspekte der Arzneimitteltherapie. Einfach gesagt: Was ihm hilft, muss ihr nicht automatisch guttun. Zudem werden Medikamente in vielen Fällen fast ausnahmslos an Männern getestet. Für Bernd Riese, Pflegedienstleiter im Kreiskrankenhaus Prignitz, im Norden des Landes Brandenburg, ist es keine Frage, dass ein geschlechterspezifischer Ansatz auch in die Kranken- und Altenpflege gehört. Allein diese Beispiele weisen auf die vielfach unterschiedlichen Risikofaktoren für Krankheitsentstehung, Krankheitsverlauf und Behandlungsrisiken hin. „Es geht nicht um eine Kategorisierung, Gegenüberstellung oder Abgrenzung, sondern darum, dass beide Geschlechter profitieren, wenn sie mit ihren Unterschieden wahrgenommen werden und Präventionsangebote sowie Therapiemaßnahmen darauf abgestimmt werden“, so Annegret Hofmann, die darauf verweist, dass Gender-Medizin ein sehr kommunikationsintensives Querschnitts-Thema ist, weil es eben so viele verschiedene Fachgebiete berührt. „Die Arbeit mit dem und im neugegründeten Verein wird es uns ermöglichen, noch mehr Partner ins Boot zu holen und Versorgungsbereiche zu erschließen, in denen wir gute Möglichkeiten für die Implementierung einer geschlechtersensiblen Gesundheitsversorgung sehen“, so Dr. Gesine Dörr, Ärztliche Direktorin des St. Josefs Krankenhauses Potsdam, die dies vor allem aus Sicht der Kardiologin und Reha-Expertin sieht.
PD Dr. Harun Badakhshi, Chefarzt der Klinik für Radioonkologie und Strahlentherapie am Ernst-von-Bergmann- Klinikum Potsdam, lenkt den Fokus auf die Aus- und Weiterbildung der Mediziner/ innen. „Hier gibt es riesige Wissenslücken, die aufgefüllt werden müssen, wenn wir zu einer guten gesundheitlichen Versorgung kommen wollen.“ Das betreffe nicht nur die onkologische Versorgung, sondern beginne bereits bei der Prävention. Wenn diese Grundlagen gelegt seien, werde es besser möglich, auch in den Krankenhäusern eine geschlechtersensible Versorgung als Qualitätsmerkmal anzubieten. Und der Vorschlag des Vereins ist auch schon in die Diskussion gebracht: Ein Qualitätssiegel an der Krankenhaustür: „Gut für Frauen – gut für Männer!“ als Botschaft für Patienten zur stationären geschlechtergerechten Versorgung.
Zum Vorstand des Vereins gehört Prof. Dr. Sabine Oertelt-Prigione. Sie war viele Jahre Mitarbeiterin am Charité-Institut für Geschlechterforschung in der Medizin und ist seit Sommer 2017 Gendermedizin- Professorin an der Radboud-Universität Nijmegen, sowie Dr. Natascha Hess, die in Berlin und Werder praktiziert. Die niedergelassene Kardiologin ist eine Pionierin der Gendermedizin in Berlin/Brandenburg. Sie wirkt seit Jahren unermüdlich in der Weiterbildung der Ärzte auf diesem Gebiet und ist im Moment dabei, im Rahmen eines Medizinischen Versorgungszentrums, kurz MVZ, eine qualifizierte geschlechtersensible Versorgung von Patientinnen und Patienten anzubieten, denn der Wissenszuwachs auf diesem Gebiet ist riesig. „Es vergeht kaum eine Woche, dass nicht eine neue wissenschaftliche Erkenntnis publiziert wird, die neue Möglichkeiten einer besseren gesundheitlichen Versorgung von Frauen und Männern, auch verschiedener Altersgruppen, eröffnet. Es dauert sehr lange, zu lange, bis solche Erkenntnisse in den Arztpraxen und Kliniken umgesetzt werden, bei der Verordnung von Medikamenten oder auch in Prävention, die bei Reha und Pflege eine Rolle spielen“, so die Vereinsvorsitzende Annegret Hofmann.
Die Kontakte von G3 in der Metropolenregion sind inzwischen sehr umfangreich. Sie reichen vom Brandenburger Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie über die Landesgleichstellungsbeauftragte Monika von der Lippe, von großen Kliniken und medizinischen Einrichtungen, medizinischen Berufsverbänden bis zu Pro Wissen e.V. in Potsdam, dem Wissenschaftspool der Landeshauptstadt, und hören beim Gesundheitscampus Brandenburg noch nicht auf.
Die Krankenkasse DAK-Gesundheit unterstützte im vergangenen Jahr die Bereitstellung eines ersten Flyers zur Gender- Medizin, um Patienten Wissen zu vermitteln und für das Thema zu sensibilisieren. Schließlich geht es darum, für jeden Einzelnen die richtige Diagnose zu stellen und die passende Therapie zu finden. Davon profitieren der Patient und das Gesundheitssystem.
Informationen zur Gender-Medizin im Netz Website des Netzwerkes Gendermedizin und Öffentlichkeit, aktuelle Infos zur geschlechtergerechten Gesundheitsversorgung: www.gendermed.info. Die Vereinswebsite ist im Entstehen.
Im Aufbau befindliche Website mit Autorenbeiträgen, Universität Münster: www.gendermed-wiki.de
Website der Fachärztin und Gendermedizinerin Dr. Natascha Hess zur Kardiologie, Berlin/Werder: www.drnh.de
Website der DAK-Gesundheit mit Beiträgen zur Frauen- und Männergesundheit: www.dak.de
Portal zur Frauengesundheit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA): www.frauengesundheitsportal.de
Portal zur Männergesundheit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA): www.maennergesundheitsportal.de
von Brigitte Menge