Wer über die Bundesstraße 1 aus Richtung Westen nach Letschin kommt, den begrüßt der Alte Fritz hoch oben auf seinem Denkmalsockel. Mit seiner hageren Rückenansicht, denn seine Aufmerksamkeit gilt dem Ort im Oderbruch. Und der hat einen zweiten achtsamen Blick verdient.
Friedrich dem Großen wurde das Denkmal 1905 für sein Mammut-Projekt, das Oderbruch trockenzulegen, errichtet. Der Fluss, bis an dessen Ufer das weiträumige Gebiet der Gemeinde Letschin reicht, wurde im 18. Jahrhundert zwischen Güstebieser Loose und Hohensaaten in ein neues Bett verfrachtet. Zahllose schnurgerade Kanäle durchziehen seitdem das flache, weitläufige Land, auf dem einzelne Gehöfte wie bunte Streusel auf der Geburtstagstorte liegen. „Einst stand der Alte Fritz an anderer Stelle. 1945 sollte das Denkmal eingeschmolzen werden, aber es fanden sich Bürger, die es versteckten. 1986 wurde es aus dem Versteck geholt, in einer wilden Aktion aufgestellt, dann restauriert und 1990 erneut eingeweiht“, berichtet Edgar Petrick, Leiter der Letschiner Heimatstuben und Mitglied des sehr regen Heimatvereins. All die Jahre hatte Friedrich auf seinem Denkmalsockel einen wachen Blick auf die Gaststätte „Zum Alten Fritz“ an seiner linken Seite, in der fast 45 Jahre lang Helga und Wolfgang Bartsch Gäste begrüßten. Doch einen Thronfolger fand das Wirtspaar nicht. Nun erinnert nur noch ein Hinweisschild an die mörderische Geschichte des Hauses, denn Theodor Fontane machte es zum Schauplatz seiner Kriminalnovelle „Unterm Birnbaum“. Im Fontanejahr inszenierte der Regisseur Christian Schmidt das Stück für das Theater am Rand (Akteure und Betreiber des Theaters sind der Akkordeonist Tobias Morgenstern und der Schauspieler Thomas Rühmann) am Oderufer. Er gewinnt ihm mit den Fragen: Wie stark bestimmen Geld und Besitz den gesellschaftlichen Wert eines Menschen? Wie verzerren Lügen und Halbwahrheiten die Wirklichkeit? erstaunlich aktuelle Seiten ab. Auch Fontanes einziger historischer Roman „Vor dem Sturm“ spielt im Oderbruch."
Ende der 1840er-Jahre kam Brandenburgs bekanntester Wanderer zum ersten Mal nach Letschin. Von 1838 bis 1850 war sein Vater Inhaber der örtlichen Apotheke, die noch heute an der Fontanestraße steht und Fontane-Apotheke heißt. „Fontane gehörte für mich zu meiner Heimat wie Störche, Kanäle und Schiffe auf der Oder“, berichtet Renate Müller, Inhaberin der Apotheke. Brandenburgs großer Epiker brauchte nicht erst ein Gedenkjahr, um hier präsent zu sein: Es gibt einen Fontanepark, eine Büste des Autors, die Schule trägt seinen Namen und die Letschiner Heimatstuben laden in der Fontanestube ein, sich dem Dichter in einer zeittypischen Umgebung vorzustellen. „Dieses Ultramarinblau der Wände konnten sich damals nur Menschen leisten, denen es materiell gutging“, weiß Heimatstubenchef Edgar Petrick. „Wir haben hier auch schon Modenschauen durchgeführt, die in die Fontane-Zeit führten.“ Theodor Fontane war vom Ort anfangs wenig begeistert und beschrieb die Gegend als „zweites Klein-Sibirien“. Ihm steckten wohl die unfreiwilligen Umzüge der Eltern – der Vater verspielte mehrere Apotheken – in den Knochen. Zudem vermisste er das pulsierende Berlin mit seinen vielfältigen kulturellen Anregungen. Aber vielleicht lag’s auch einfach am Wetter, denn wenn im Winter der Wind die kalte Luft über die Oder ins flache Land pustet, der tagelange Regen die fruchtbare schwarze Erde aufweicht oder der Herbstnebel die Landschaft in ein undurchdringliches Grau taucht, ist die Sibirien-Assoziation nicht abwegig.
Anders Emilie Rouanet-Kummer, Fontanes spätere Ehefrau. Präzise recherchierte die Autorin Christine von Brühl in ihrem 2018 erschienen höchst informativen Buch „Gerade dadurch sind sie mir lieb: Theodor Fontanes Frauen“ auch den Lebensweg der Frau mit der französisch-hugenottischen Herkunft. Jahrzehntelang beschrieb die Literatur Emilie, uneheliches Kind einer Pfarrerswitwe, als eine unzufriedene, schlecht gelaunte und ungebildete Frau. Es ist dem Berliner Germanisten Gotthard Erler zu danken, dass dieses Bild vom Kopf auf die Füße gestellt wurde. Der ehemalige Cheflektor und Geschäftsführer des Aufbau- Verlages ist Herausgeber des über ein ganzes Leben hinweg anhaltenden Briefwechsel des Ehepaares Fontane, der „eine kluge, reizende, liebenswürdige und lebensgewandte Gefährtin offenbart, die seine Manuskripte Korrektur las und ins Reine übertrug“, wie Christine von Brühl berichtet. Mit Kenntnisreichtum, Akribie und Zeitgeistverständnis hinterfragte sie, wie und warum das einstige Emilie-Bild Jahrzehnte überdauern konnte. In ihrem Buch porträtiert sie die starken Frauen, die Fontanes Leben und sein Werk bevölkern. „Es war ein tolles Paar auf Augenhöhe und ganz sicher ist Emilie ein Grund, dass Fontane einen solchen Zugriff auf die Welt der Frauen hatte und Figuren wie Effi Briest, Mathilde Möhring und Jenny Treibel schaffen konnte“, resümiert Christine von Brühl.
Im April 1846 reiste Emilie zum ersten Mal mit Theodor zu dessen Eltern nach Letschin und schrieb von dort: „Die letztverlebten acht Tage kann ich zu den glücklichsten meines Lebens rechnen …“. Die Familie nahm sie herzlich auf, „sodass sie sich angenommen und zu Hause fühlte, was für sie als ‚Kind zur Linken‘, wie damals im höfischen Sprachgebrauch uneheliche Kinder bezeichnet wurden, besonders wichtig war“, so Christine von Brühl. „Und es war für Fontane natürlich auch ein schöner Moment, dass seine Braut akzeptiert wurde.“ Im August 1846 brachte ihr der Letschiner Briefbote einen kurzen Brief des Bräutigams, der große Freude auslöste: „Schleswig-Holstein aufgeben. Wenn dir’s paßt, im Oktober Hochzeit.“
Fontanes Schwester Elisabeth, genannt Else, sammelte vor Ort das Material für „Unterm Birnbaum“. Bleibt die Frage, wie die Fontane-Kennerin von Brühl die Popularität des Meisters erklärt. „In meinen Lesungen erlebe ich sehr viele Menschen, die mir erzählen, dass Fontane auf ihrem Nachttisch liegt. Es ist ein Autor, den sie immer wieder lesen. Ich finde es faszinierend, dass Fontanes Sprache eine solche Schönheit hat und die erzählten Geschichten über so lange Jahre hinweg Bedeutung haben.“
Fontane durchstreift im zweiten Teil seiner „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ das Oderland und beschreibt unter anderem den Fischreichtum der Gegend, die stillen Sommerabende, die Kolonisierung und mit der Präzision eines Ingenieurs die Trockenlegung des Bruchs. Es entsteht das Bild einer besonderen Landschaft, deren herbe Schönheit manchmal einen zweiten Blick braucht. Der Himmel ist weit, die Wege fernab der asphaltierten Straßen säumen Weiden, die im Nebel wie Märchengestalten wirken. Touristen, die heute hierher kommen, suchen Natur und Ruhe und finden beides in großen Portionen. Gleich vier Radwege führen durch die Gemeinde: der Oder-Neiße-Radweg, der Europaradweg R1, der Oderbruch-Radweg und der Fontane-Radweg. Die Region ist auf die Radwanderer gut eingestellt. Es gibt Pensionen am Wegesrand, kleine Cafés wie „Himmel und Erde“ in der Dorfkirche Kienitz, deren östlicher Teil als Ruine erhalten blieb – ein Mahnmal gegen Krieg und Zerstörung.
Tafeln an den Wänden, die kein Dach mehr tragen, erzählen die Geschichte der Kirche. Im Oderort steht auch ein Panzer vom Typ T-34, der daran erinnert, dass die Region Schauplatz eine der blutigsten Schlachten des 2. Weltkrieges war. Von Letschin zur Gedenkstätte auf den Seelower Höhen sind es nur wenige Kilometer. Aber auch die Ausstellung zum Dokumentarfilmwerk über das Leben und die Entwicklung der „Kinder von Golzow“ in Golzow, das Schuhmachermuseum in Groß Neuendorf, die Alte Malzfabrik in Wriezen sowie das Storchenmuseum in Altgaul führen in und durch die Geschichten des Oderbruchs. Erlebbar werden sie auch in den Letschiner Heimatstuben im Birkenweg, die Handwerk, Landwirtschaft und das Leben der Bewohner des Bruchs vorstellen. Einst drehten sich neun Windmühlen, neben der Landwirtschaft gaben eine Branntweinbrennerei, eine Bierbrauerei, eine Stärke- und eine Zuckerfabrik Arbeit und bescheidenen Wohlstand. Eine Druckerei versorgte die Letschiner mit der „Zeitung für das Oderbruch“. Die erhalten gebliebenen Exemplare sind heute eine wichtige Quelle für den Heimatverein, der mehrere Bände über die Historie des Ortes herausgab. Monatlich finden in den Heimatstuben Veranstaltungen statt, auch einen Galerieraum gibt es. Hier zeigen Künstler des Oderbruchs ihre Werke.
Und da sind da noch die Geschichten von der Schinkelkirche, die Familienpfade, die Fontanes Eltern ins Oderbruch brachten, die Historie des Hauses, in dem sich heute die Heimatstube befindet … Aber Letschin mitten in der herbschönen Landschaft des Oderbruchs hat nicht nur einen zweiten Blick, sondern auch einen zweiten Besuch verdient.
Zum Weiterlesen:
• Christine von Brühl, Gerade dadurch sind sie mir lieb. Theodor Fontanes Frauen 2018 erschienen im Aufbau Verlag
• Gotthard Erler, Die Zuneigung ist etwas Rätselvolles: Eine Ehe in Briefen 2018 erschienen im Aufbau Verlag
• Gotthard Erler, Briefe in zwei Bänden
• Carmen Winter, Das Oderbruch: Liebe auf den zweiten Blick 2018 (6. Auflage) erschienen im Findling Verlag
www.letschin.de
www.theateramrand.de
www.christinebruehl.de
www.oderbruch-tourismus.de
www.seenland-oderspree.de