Eine Quotenfrau wollte sie nie sein. „Ich bin immer für das gewählt worden, was ich kann“, sagt Dr. Dietlind Tiemann. Mit den praktischen Erfahrungen aus der Leitung von Unternehmen in der Land- und Bauwirtschaft wurde sie 2003 Oberbürgermeisterin von Brandenburg an der Havel. 2017 zog die promovierte Ökonomin mit einem Direktmandat in den Deutschen Bundestag ein. In ihrem Wahlkreisbüro am Altstädtischen Markt in Brandenburg an der Havel sprachen wir mit der CDU-Politikerin über Bodenhaftung, aktuelle und zukünftige Politik, Zeitmanagement, Erfahrungen und Chancen.
Wollte man alle Ihre Funktionen und Ämter aufzählen, wäre wohl die Hälfte des geplanten Platzes für dieses Interview aufgebraucht. Ein enormes Arbeitspensum. Wie sieht Ihre Woche – außerhalb der Sitzungswoche des Bundestages – aus?
Das ist die Zeit, die uns der Gesetzgeber für unseren Wahlkreis gab. Ich nutze diese Zeit sehr aktiv, denn es ist wichtig, die Themen aus den Zeiten des Wahlkampfes nicht abzulegen, sondern sie immer wieder aufzugreifen. Zudem setze ich neue Themen, die mit meiner Arbeit im Deutschen Bundestag zu tun haben, vor allem im Bildungsausschuss oder in der Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“. Ich bin sehr viel in meinem Wahlkreis unterwegs, der flächenmäßig sehr groß ist und der neben der Stadt Brandenburg an der Havel Teile vom Havelland, von Potsdam- Mittelmark und Teltow-Fläming umfasst. Auf dem Programm stehen viele Gespräche vor Ort, die verschiedensten Veranstaltungen und Besuche bei Unternehmen, um die Rückkopplung zu den Fragen, die in den Gremien des Bundestages diskutiert werden, zu haben.
Wie sieht das konkret aus?
Ein Beispiel: In der vergangenen Woche war ich mit Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner und rund 100 Landwirten und Landfrauen auf dem Vielfruchthof des Domstiftsgutes Mötzow. Wenige Tage zuvor besuchte ich gemeinsam mit dem Kammerpräsidenten und mehreren Verantwortlichen das Ausbildungszentrum der Handwerkskammer in Götz, wo wir uns vor Ort über die Aus- und Weiterbildung in den handwerklichen Berufen, aber auch der Landwirtschaft, informierten. Dazu gehören für mich die Fragen nach den Erfahrungen, Wünschen und Bedürfnissen der Ausbilder und der Auszubildenden vor Ort. In Götz wird bereits an und mit der modernsten Computertechnik ausgebildet. Ich habe erlebt, wie diese Technik in den riesigen Landmaschinen arbeitet und im Ergebnis die Produktivität steigert sowie den Einsatz von Energie, Dünger und Pflanzenschutzmitteln verringert. Da lässt sich erahnen, wie groß der durch die Digitalisierung einschließlich der Satellitentechnik ausgelöste Wandel in der Landwirtschaft ist. Deshalb werde ich mein „Praktikum als MdB“ in diesem Jahr in der Landwirtschaft absolvieren.
Aus dem Praktikantenalter sind Sie doch längt raus. Was ist das?
Abgeordnete des Bundestages haben die Möglichkeit, während der sitzungsfreien Zeit ein bis zwei Tage ein Praktikum zu absolvieren. Im vergangenen Jahr war ich bei einer Sicherheitsfirma auf dem Flughafen Schönefeld. In diesem Jahr gehe ich in die Landwirtschaft und nächstes Jahr in eine Einrichtung der Pflege. Natürlich in meinem Wahlkreis, in Weseram. Während dieser Praktika erkennt man ziemlich schnell die Dimensionen und die ganz praktischen Auswirkungen von Entscheidungen, die im Parlament oder seinen Gremien gefällt werden.
Warum die Landwirtschaft?
Weil sie in meinem Wahlkreis ein wichtiger Bereich ist. Gegenwärtig stört es mich enorm, dass unsere Landwirte und Tierhalter häufig in eine kriminelle Ecke gestellt werden. Dieses schlechte Image muss aufgebessert werden, schließlich arbeiten sie hier vor Ort unter strengen Auflagen täglich hart dafür, dass wir nicht nur satt werden, sondern auch Natur und Umwelt geschont werden.
Wo liegen die Schwerpunkte Ihrer Arbeit im Bundestag?
Ich bin stimmberechtigtes Mitglied im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung. Hier sind meine Schwerpunkte der nationale Bildungsrat, der Masterplan Medizinstudium 2020 sowie der gesetzliche Anspruch auf Ganztags- Schulbetreuung. Für diese Themen erstatte ich Bericht. Stellvertreterin bin ich im Bereich Landwirtschaft/Ländliche Räume sowie im Ausschuss für Gesundheit, wo ich ebenfalls als Stellvertreterin arbeite. Darüber hinaus engagiere ich mich im Vorstand der Arbeitsgruppe Kommunales und freue mich besonders über meine Zugehörigkeit in der Enquete-Kommission, die fraktionsübergreifend einen Bericht zur Zukunft der beruflichen Bildung verfassen wird.
Sie sind Brandenburgerin, Ihr Wahlkreis liegt im Land, in dem in diesem Herbst gewählt wird. Was sollte die neue Landesregierung – unabhängig von der politischen Farbigkeit, die sie haben wird – unbedingt anpacken?
Wir sind als Land gut aufgestellt. Das Defizit ist die fehlende Grundsatzstrategie der bisherigen Landesregierung. Wir spüren und erleben diesen nicht vorhandenen Masterplan gerade exemplarisch beim Thema „Kohleausstieg“, aber natürlich auch bei Themen wie Mobilität, erneuerbare Energien, speziell Windenergie und dazugehörigen Fördermaßnahmen. Die zukünftige Landesregierung muss definieren: Wo wollen wir hin? Und diese Analyse muss dann zügig in die Tat umgesetzt werden.
Und wenn das erfolgt ist?
Dann kann man die genauen Schwerpunkte ableiten, auch für die einzelnen Landesteile. Dazu gehören Themen wie Bildung und Wissenschaft – eng gekoppelt mit der Wertschöpfung hierzulande –, aber auch der dringend notwendige flächendeckende, innovative öffentliche Nahverkehr, der ohne wirkliche Digitalisierung und Energiestrategie für die Zukunft nun mal nicht funktioniert.
Energiestrategie hat mit Kohleausstieg zu tun. Auch Brandenburg an der Havel hat einen tiefen Strukturwandel hinter sich.
Im Jahr 1994 wurde unser Siemens-Martin-Ofen-Stahlwerk geschlossen. Für rund 10.000 hoch geachtete und gut verdienende Stahlwerker brach eine Welt zusammen. Als ich 2003 gewählt wurde, hatten wir eine Arbeitslosigkeit von fast 24 %, mindestens noch einmal so viele Menschen absolvierten verschiedene Fördermaßnahmen. Heute haben wir drei zahlenmäßig gleichrangige Beschäftigungsbereiche: die Metallverarbeitung – darunter das Riva-Stahlwerk mit 800 Beschäftigten –, den Gesundheitssektor mit vier großen Krankenhäusern und den Dienstleistungsbereich. Die Arbeitslosigkeit liegt bei unter 8 %. Wenn ich mir die Grundprinzipien des Milliarden-Euro-Pakets zur Finanzierung des Kohleausstiegs anschaue, sehe ich da überwiegend Umverteilung und wenig Wertschöpfung. Die völlig unsinnige Umsiedlung eines Ministeriums ist nicht mal ein Ansatz der Landesregierung, das Problem anzugehen.
Sie waren als ehemalige Oberbürgermeisterin unmittelbar und täglich mit dem Alltag der Menschen verbunden. Konnten Sie sich das bewahren? Vermissen Sie das jetzt manchmal?
Ich vermisse es auf der einen Seite, auf der anderen habe ich es ja nicht aufgegeben. Mein Korrektiv sind die Kommunen, die Menschen vor Ort, und so stelle ich bei vielen Entscheidungen im Bundestag die Frage: Was bedeutet diese Entscheidung für die Kommunen? Zugleich habe ich in meiner Zeit als Oberbürgermeisterin viel über die alltäglichen Sorgen der Menschen erfahren und weiß auch, wo die Möglichkeiten des Staates enden und die persönliche Pflicht jedes Einzelnen von Bedeutung ist. Zugleich habe ich meine Erfahrungen nach Berlin mitgenommen, wie man in schwierigen Situationen – wie wir sie in der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 hatten – zusammenrückt, Probleme anpackt und gemeinsam löst.
Schon gibt es Stimmen, die das Ende der Volksparteien prophezeien. Welche Chancen sehen Sie für die CDU, neue Wähler zu gewinnen und „Wanderwähler“ zurückzugewinnen?
Meine Erfahrungen lehren mich, dass man den Bürgern nicht nur etwas zumuten kann, sondern vielmehr ihnen etwas zutrauen muss. Das heißt: klare Aussagen zum eigenen Ziel, zu den Wegbegleitern und den Folgen – auch, wenn’s mal weh tut. Allerdings treffen die großen Parteien in den seltensten Fällen Aussagen, mit denen der Bürger etwas anfangen kann. Heißt im Klartext: Wer Ja sagt, muss Ja meinen und beim Ja bleiben. Mit den Menschen vor Ort über das reden, was sie wirklich bewegt, keine Angst vor unbequemen Fragen haben und die eigene Position klar benennen – das ist den sogenannten Volksparteien ein Stück weit abhandengekommen. Nur rausgehen, Jacke ausziehen, Ärmel hochkrempeln, dem Gegenüber auf die Schulter zu klopfen, als habe man zusammen im Buddelkasten gespielt – das ist es nicht. Viele Politiker haben den Kontakt zur Realität, zur Basis nicht mehr oder wagen es aus falsch verstandener „Political Correctness“ nicht, unangenehme Wahrheiten zu sagen. Menschen spüren sehr genau, ob ihre Probleme ernst genommen werden.
Trotz oder gerade wegen Ihres engen Zeitplanes: Wo und wie finden Sie Momente der Entspannung?
Entspannung finde ich in meiner wunderbaren großen Familie. Und zum anderen liebe ich die Pflanzen in unserem wunderschönen Garten und besonders im Blumenmeer unseres Wintergartens. Aufgrund der Erfolge meines gärtnerischen Hobbys behauptet mein Mann gern mit einem Augenzwinkern, wenn ich meinen grünen Daumen in die Erde stecke, würde der nach kurzer Zeit blühen.
Zur Person:
• Dr. Dietlind Tiemann (Jahrgang 1955) wuchs im Kreis
Genthin auf, legte ihr Abitur in Brandenburg an der
Havel ab und studierte von 1974 bis 1978 an der Hochschule
für Ökonomie (HfÖ) in Berlin-Karlshorst Arbeitsökonomie.
• Nach dem Studium arbeitete Dietlind Tiemann bis
1990 im VEB Landbaukombinat Potsdam, Sitz Brandenburg
an der Havel. Daneben schloss sie 1987 eine
außerplanmäßige Aspirantur an der Ingenieurhochschule
Mittweida ab und wurde promoviert.
• Nach 1990 Geschäftsführerin verschiedener privater
Bauunternehmen, 1994 bis 2003 Geschäftsführende
Gesellschafterin eines eigenen Bauunternehmens.
• Seit Anfang der 1990er Jahre war Dietlind Tiemann
Mitglied des Wirtschaftsrates der CDU, Gründungsmitglied
der Sektion Berlin-Brandenburg, später im
Landesvorstand, dann Landesvorsitzende und zeitweise
im Bundesvorstand.
• Dezember 2003–2017 Oberbürgermeisterin von Brandenburg
an der Havel.
• Seit Oktober 2017 Mitglied des Deutschen Bundestages.
Stellvertretende Vorsitzende der AG Kommunalpolitik
der CDU/CSU-Fraktion. Mitglied der
Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen
Arbeitswelt“.
• Sie ist mit Dr.-Ing. Klaus-Peter Tiemann verheiratet
und hat einen Sohn.
www.dietlind-tiemann.de