Zur Kirschblüte des Jahres 1895 reisten sechs Freunde auf den Galgenberg in Werder (Havel). Unter ihnen der 24-jährige Dichter Christian Morgenstern. Zehn Jahre später erschienen seine „Galgenlieder“ erstmals im Berliner Verlag Bruno Cassirer. In Werder (Havel) ist Deutschlands einziges Morgenstern-Museum.
Es braucht nicht sonderlich viel Vorstellungskraft, sich die jungen Männer vor 125 Jahren vorzustellen, die von Berlin aus ins Brandenburgische reisten und ihrer Phantasie auf dem schaurig-schönen Galgenberg in Werder freien Lauf ließen. Vermutlich befeuerten der Obstwein und die üppig blütenreiche Frühlingslandschaft das rauschhafte Stimmungshoch noch zusätzlich, sodass aus dem jungen Dichter die Verse nur so heraussprudelten. Die Galgenlieder, zu denen Gedichte wie „Galgenbruders Lied an Sophie, die Henkersmaid“, „Das große Lalulā“ oder „Der Rabe Ralf “ gehören, bezaubern Leserinnen und Leser bis heute. Das hat viele Gründe. Ein Mondschaf, ein Geierlamm, eine Schildkrökröte und viele andere ausgefallene Protagonisten bevölkern das Universum von Morgensterns Galgenliedern. Voller grotesk-skurrilem Humor scheinen sie ein kindlich-spaßiges Spiel zu treiben. Die Krönung ist „Fisches Nachtgesang“: Das Gedicht verzichtet ganz auf Wörter und besteht lediglich aus Silbenzeichen. Ein Unikum, einzig dem Ulk verpflichtet? Morgensterns Verse fordern einen zweiten oder gar dritten Blick heraus. „Vor dem Ekel muss man sich mit Lachen schützen“, schrieb er in sein Tagebuch. Der chronisch kranke Dichter meinte damit weniger die schaurigen Rituale auf dem Galgenberg als vielmehr preußische Enge, allgegenwärtiges Militär und kolonialen Größenwahn. „Man wird die deutsche Literatur lange durchsuchen müssen, um bei dieser Tiefe solche Meisterschaft des Spielens zu finden“, schrieb Arnold Zweig 1932. Morgensterns doppelbödigkuriosen Blick auf die Welt bewunderte auch Kurt Tucholsky, der in der Schaubühne schrieb: „Man weiß am Schluss nicht, was man mehr bewundern soll, die Clownerie oder die tiefe Weisheit.“"
Die Trichter
Zwei Trichter wandeln durch die Nacht.
Durch ihres Rumpfs verengten Schacht
fließt weißes Mondlicht
still und heiter
auf ihren
Waldweg
u.s.
w.
Wer heute den Galgenberg sucht, wandert vergeblich durch die Havelstadt. Die Richtstätte des Mittelalters erhielt in Bismarcks Zeiten, als so ziemlich in jedem Ort einem Aussichtturm, einer Eiche oder einer Kneipe der Name des Eisernen Kanzlers verpasst wurde, die furchtfreie Bezeichnung Bismarckhöhe, die vom 1898 errichteten Turm 30 Meter über dem Havelspiegel gekrönt wird. „Schauen Sie, von hier aus sieht man die ganze Insel“, erklärt Achim Risch, als wir an diesem feuchtkühlen Februartag auf dem Bismarckturm stehen und sich vor uns die Weite der Landschaft ausbreitet. „Es ist ‚die schönste Aussicht auf Werder‘. Das stammt nicht von mir, sondern von Gustav Altenkirch, Werderaner Obstzüchter und Saftpresserei-Besitzer, der hier oben 1890 in einem einfachen Schankzelt seine Fruchtsäfte verkaufte“, berichtet der Werderaner und lädt ins Innere des Turmes ein. Dessen oberste Etage stellt die Gastronomen-Familie Altenkirch vor, die den einstigen Galgenberg zu einer blühenden Höhengaststätte samt Aussichtsturm, Ballsaal und großen Freiflächen entwickelte. Während des 2. Weltkriegs war hier ein Reservelazarett untergebracht, später folgten Möbellager und Verfall. Im Jahr 2002 kaufte die Stadt Werder (Havel) das Ensemble auf dem einstigen Galgenberg. Doch wie nutzen? Der Freundeskreis Bismarckhöhe entstand zwei Jahre später, suchte und fand die Antworten. Im Freundeskreis fanden Menschen zusammen, die sich für die Historie des Ortes genauso interessieren wie für eine lebhafte Wiederbelebung der geschichtsträchtigen Höhe über der Havel. Das Konzept überzeugte. Doch bevor Aussichtsplattform, Altenkirch-Zimmer, Christian Morgenstern Literatur-Museum, Turmgalerie, Ballsaal und kleiner Salon ihre ersten Besucher und Gäste empfingen, stand ein Riesenberg Arbeit vor dem aktiven Verein.
„Der Hinweis, Morgenstern zu erforschen, kam von den Werderanern selbst“, erinnert sich Achim Risch, Schöpfer des Christian Morgenstern Literatur-Museums und deutschlandweit geachteter Morgenstern-Kenner. „Wir haben viel zur Geschichte der Bismarckhöhe erforscht und dokumentiert“, beschreibt der agile 90-Jährige die Ausstellung eher bescheiden. Rund vier Jahre sammelte und recherchierte das kleine Team; nahm Kontakte zu Archiven, Verlagen und Literaturwissenschaftlern auf. Und reiste nach Marbach, wo wichtige Teile des Morgenstern-Nachlasses, insbesondere die Originale der Galgenlieder, aufbewahrt werden. Das 2014 zum 100. Todestag Morgensterns eröffnete Museum in der 1. Etage erinnert nicht nur daran, dass an diesem Ort die Galgenlieder entstanden, sondern stellt auf gut gestalteten Schautafeln das Leben des 1891 in München geborenen Dichters, Schriftstellers und Übersetzers (vor allem Ibsen, später Hamsun) vor. Stück für Stück sammelte der Enthusiast Risch alles, was er aus dem und über das Leben Morgensterns finden konnte: Buch-Ausgaben aus verschiedenen Jahrzehnten, historische Schriften aus allen Lebensphasen, alte Schallplatten, Gemälde – u. a. von Großvater und Vater, die Maler waren – sowie eigene Malerei, die der Dichter bald aufgab mit der Begründung: „Meine Malerei ist das Wort.“ Noch vor der Eröffnung des Museums erließ der kleine Kreis um Achim Risch den „Ruf vom Galgenberg“, der die Öffentlichkeit und Künstler aller Genres mobilisierte, Morgenstern mit den eigenen Mitteln zu würdigen. Ergebnisse zeigt das Museum. Zu sehen sind eine Fülle von Tonträgern mit Morgenstern- Interpretationen durch Sänger und Schauspieler aus verschiedenen Epochen. Auch der 150 Bände umfassende Morgenstern-Fundus der Christengemeinschaft Berlin lagert jetzt auf der Bismarckhöhe. In seinen späten Lebensjahren verband den Dichter und seine Frau eine enge Freundschaft mit Rudolf Steiner, beide wurden Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft.
Mit dem Stolz des leidenschaftlichen Sammlers zeigt Achim Risch eine Erstausgabe der „Galgenlieder“ mit einer Widmung. Die Morgenstern-Gesellschaft und die Freunde der Bismarckhöhe sammelten so lange Geld, bis sie diese Rarität in einem Wiener Antiquariat erwerben konnten. Unter den Schaustücken auch die Original-Geldbörse des Dichters („leider leer, aber das war sie im Leben oft“) und die Eheringe des Paares Morgenstern und Margareta Gosebruch von Liechtenstern. Im Jahr 1908 lernte die Generalstochter den damals schon stark von seiner Lungenkrankheit gezeichneten Dichter kennen. Nach dessen Tod im März 1914 kümmerte sie sich um den Nachlass, gab nicht veröffentlichte Werke in den Druck und hielt die Erinnerung lebendig. Auch Kuriositäten, wie Morgenstern-Verse gedruckt auf Toilettenpapier, sind zu sehen. Zu den Schätzen des Werderaner Museums gehört seit dem vergangenen Jahr die von Prof. Reinhardt Habel herausgegebene neunbändige Morgenstern-Gesamtausgabe, im Urachhaus-Verlag Stuttgart erschienen und inzwischen nur noch antiquarisch zu bekommen. Morgenstern- Experte Habel würdigte die Arbeit der Museums-Gründer und fand lobende Worte für das, was entstand. Spätestens da wurden Literaturwissenschaftler, Journalisten und Menschen, die den wortakrobatischen Dichter lieben, auf die Havelstadt mit dem bemerkenswerten Museum aufmerksam. Inzwischen kommen Besucher aus dem ganzen Land hierher. Sie erleben ein Museum, welches das Werk Morgensterns mit Ausstellungen, Lesungen, musikalisch- literarischen Veranstaltungen und Medienbeiträgen lebendig hält. Die Ausstellung wächst ständig. Der Plan, mit einem kleinen Computerraum mehr Jugend ins Museum zu locken, funktionierte nicht wie gewünscht, aber der Ausbau eines der Räume zu einem Veranstaltungssaal umso mehr. Hier gibt es Lesungen, Vorträge und musikalische Events. 2018 wurde in diesem Saal die Christian-Morgenstern-Gesellschaft gegründet, deren Ehrenvorsitzender Achim Risch ist. Die Freie Waldorfschule des Ortes trägt den Namen des Dichters.
Werder zog von jeher Künstler an. Noch heute leben und arbeiten hier Maler, Schriftsteller und Musiker. Es gibt kleine Galerien und Ausstellungen, Kunstprojekte und alljährlich im August einen Kunstmarkt auf der Insel, die man von der Bismarckhöhe so voll und ganz im Blick hat.